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Warum ich Wut, Angst und Trauer liebe

Bilder aus dem Workbook der Integrationsmatrix

 

 

Was löst dieser Titel in dir aus? Bist du überrascht? Kannst du es gut nachvollziehen? Oder hältst du mich für verrückt? Kann man diese „negativen“ Gefühle denn lieben?

 

Ersteinmal möchte ich dich einladen, die Wertung aus dem Thema Gefühle herauszunehmen. Es gibt weder „positive“ noch „negative“ Gefühle. Es gibt Gefühle. Sie machen uns lebendig und zeigen uns, jedes einzelne auf seine Art, dass etwas unsere Aufmerksamkeit verlangt. Sie alle sind unsere „kleinen Helferlein“, immer im Einsatz, um uns zu schützen oder uns in schweren Zeiten zu unterstützen.

 

 

Wut ist ein Geschenk

 

 

So beschreibt es Arun Ghandi, Mahatma Ghandis Enkel, in seinem gleichnamigen Buch.

 

Sie hilft uns, unsere Grenzen zu schützen und birgt die Macht zur Veränderung. Es ist also nicht das Gefühl der Wut selbst, das „negativ“ ist. Es ist ihr Ruf. Und die damit einhergehenden Strafen oder Bewertungen, die drohen, wenn sie in uns lodert. Mädchen sollen sie gar nicht haben. Und wenn sie eben doch mal aufflammt, dann werden Mädchen oft mit Ausschluss, Liebesentzug, Abwertung oder gar physischer wie verbaler Gewalt bestraft. Das passiert bei Jungen natürlich auch. Oft auf noch brutalere Weise. Aber im Grundsatz wird die Wut bei Jungen und Männern in unserem binären Geschlechterbild als natürlich angesehen und bei Mädchen und Frauen als unverhältnismäßig und unangemessen.

 

 Es ist die Angst vor diesen Reaktionen auf unsere Wut, die sie so unangenehm macht.

 

Bei mir hat sich mein Körper einige „Schutzmechanismen“ ausgedacht, um mich vor diesen Strafen zu schützen und die mich davon abhalten sollen, meine Wut zu spüren oder gar offen zu zeigen. Einer dieser Mechanismen ist, dass sich meine Kehle zuschnürt, oder wie von zwei Korken verstopft wird. Es nimmt mir die Luft zum Atmen und hindert mich am Sprechen. Zum Teil raubt es mir buchstäblich die Sprache. Dann bin ich heiser oder habe am Abend wirklich keine Stimme mehr.

 

Einen weiteren Schutzmechanismus habe ich jahrelang gehabt. Wenn ein Mann mich blöd angemacht hat, mich angefasst oder mir ekelhafte sexistische Witze erzählt hat, bin ich erstarrt und habe zusätzlich sogar noch gelächelt. Dabei wäre Wut so unendlich angebracht gewesen! Es wäre völlig richtig und wichtig gewesen, die Hand wegzuschlagen oder diese Männer verbal und wütend in die Flucht zu schlagen! Es hat mich einiges an Arbeit gekostet, diese von meinem Körper sehr gut gemeinten Schutzstrategien abzulegen. An der erstgenannten arbeite ich bis heute noch.

 

Und wenn ich es schaffe, die Wut in all ihrer Kraft zu spüren und sie auch offen zu zeigen, ist das ein wahnsinnig befreiendes Gefühl. Es ist ein riesiges Aufwallen all meiner Würde. Die steht dann groß und unantastbar im Raum und wird sich auch nicht klein machen, weinen oder sich entschuldigen dafür, dass ich da bin.

 

Das ist die Kraft der Wut. Und ich wünsche sie euch allen!

 

Wer noch mehr dazu lesen möchte, kann auch meine Gedankenspiele #5 „Die Kraft der Wut nutzen“ lesen.

 

 

 

 

 

 

 

Angst ist die Wächterin unserer Bedürfnisse

 

 

 

„Ich hab keine Angst!“

 

Wie oft ich diesen Satz schon gehört habe… Im Gefängnis ständig, obwohl der Raum gefüllt ist mit Angst. Viele Jugendliche, mit denen ich arbeite behaupten ständig keine Angst zu haben. Sie seien Löwen oder sonstige Raubtiere und sie haben keine Angst!

 

Wie gefährlich es ist, Jungs einzubläuen, dass sie keine Angst haben dürfen! Ist sie es doch sie, die uns vor Gefahren warnt. Gäbe es die Angst nicht, würden wir wahrscheinlich mit echten Löwen knuddeln wollen, weil die ja so niedlich sind. Die Angst ist es, die mich davon abhält, mir sagt, dass es wohl keine gute Idee wäre. Die Angst ist es, die mich dazu bringt erst nach links und rechts zu gucken, bevor ich über die Straße gehe.

 

Doch, da auch die Angst sich oft nicht besonders schön anfühlt, schiebt man sie gerne weg von sich oder sperrt sie irgendwo ein. In vielen Jahren Körpertherapie habe ich die Angst schon in vielen meiner Muskelverspannungen entdeckt und sie ansehen und zulassen können. Erst fließt sie dann ganz kalt durch den Körper, die Zähne klappern, ich zittere. Und dann irgendwann ist es, als würde ein Schalter umgelegt und eine Energie strömt durch mich hindurch wie ein warmes Rieseln.

 

Will man die Angst weit von sich weisen, dann hat sie die Angewohnheit größer zu werden. Sie wird nicht gehen. Sie ist eine treue Begleiterin. Sie ändert ihre Gestalt, damit du sie auch ja nicht weiter übersehen oder ignorieren kannst. Aber, keine Sorge! Sie ist wie ein Scheinriese. Je näher du wieder auf sie zugehst, desto kleiner und freundlicher wird sie. Denn sie ist eine Freundin, die dir helfen möchte.

 

Im A.T.C.C.-Ansatz nenne wir die Angst „Die Wächterin der Bedürfnisse“. Es lohnt sich also, sie genauer anzusehen und zu verstehen, was sie mitteilen möchte.

 

Wir arbeiten mit sechs Bedürfnissen, die jeder Mensch hat. Und verschiedene Ängste weisen uns darauf hin, dass ein Bedürfnis gerade in Gefahr ist.

 

 

Angst vor…

Bedürfnis nach…

Ablehnung, Ausschluss

Liebe

Versagen, Abwertung, Urteil

Anerkennung

Übergriffen, Zerstörung

Sicherheit

Grenzenlosigkeit, Fremdem, Richtungslosigkeit

Orientierung

Zwang, Abhängigkeit

Freiheit

Sinnlosigkeit, Stillstand, Tod

Sinn

 

 

 

Angst mach eng. Sie nimmt einem teils buchstäblich den Raum zum Atmen. Daher ist Atmen auch eine gute Erste Hilfe, wenn man die Angst spürt. Wenn du in keiner wirklich lebensbedrohlichen Situation bist, dann atme erst einmal in Ruhe ein und aus. Nicht unbedingt besonders tief oder stark. Nimm dir einfach die Zeit und den Raum zum Atmen und lass dein System wieder etwas runterfahren. Dann kannst du genauer hinsehen, was die Angst dir sagen will.

 

Außerdem sind die Verhaltensmuster in Konflikten (Kampf, Flucht, Erstarrung und Anpassung) ein guter Hinweis darauf, dass gerade die Angst am Werk ist. Es ist also hilfreich zu üben, wahrzunehmen, wenn man aus einem Muster heraus handelt. Dann kann man innehalten und überlegen, was denn eigentlich gerade das Bedürfnis ist, was verhandelt werden müsste.

 

Doch, was diese Muster so wertvoll macht und wie du sie an dir erkennen kannst ist ein anderes Thema, das zu einem anderen Zeitpunkt erzählt werden soll.

 

Wer zur Angst noch was lesen möchte, kann sich auch meine Gedankenspiele #1 durchlesen.

 

Hier geht es jetzt noch um die Trauer.

 

 

 

Wozu bitte ist die Trauer gut?

 

 

Und wieso sage ich, dass ich sie liebe? Das fragst du dich vielleicht. Denn sie kann ja so weh tun. Ein wohliges Gefühl ist sie jedenfalls nicht. Und doch möchte ich dich auch hier bitten, sie nicht mit dem abwertenden Adjektiv „negativ“ zu betiteln. Denn auch die Trauer hat eine sehr wichtige Aufgabe. Die, des Loslassens. Trauer spüren wir, wenn wir etwas verlieren. Sei es ein geliebter Mensch oder auch nur ein Liebelings-Kleidungsstück. Selbst nicht physische Dinge wie der Verlust einer einst erträumten Zukunft, die sich zerschlagen hat löst die Trauer aus.

 

Während die Wut wie ein Feuer ist, ist die Trauer ein Fluss. Sie kann sich durch uns bewegen und dabei behilflich sein, Verlorenes und Geliebtes loszulassen und es buchstäblich aus uns herausfließen zu lassen. Versuche ihr also nicht, Steine in den Weg zu legen. Steine, wie „Ich darf nicht weinen!“, „Ich muss funktionieren“ oder „Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen“. Oder „Wie albern, um etwas zu weinen, das nie wirklich da war“. So wie ich es mir vor drei Jahren immer wieder gesagt habe, als ich einen Abgang hatte. Die Trauer wird sich trotz allem einen Weg bahnen. Der Prozess dauert nur länger. Und die Trauer braucht eben so lange wie sie braucht. Je wichtiger der Mensch oder die Idee war, die du verloren hast, desto mehr Zeit wird die Trauer brauchen. Würdige sie und damit auch den Menschen oder die Idee, den oder die du verloren hast. Setze dich nicht unter Druck.

 

Vielleicht passt auch das Bild des Meeres besser als das des Flusses. Denn Trauer kommt in Wellen. Mal ist es wieder ruhig in dir und du denkst es ist jetzt wieder besser. Dann aber schlagen die Wellen wieder hoch, völlig unerwartet und manchmal mitten auf der Straße. Das Meer kann auch mal richtig stürmig werden und dann ist die Trauer auch zornig und könnte mit Wut verwechselt werden.

 

Um den Emotionsforscher Jorgos Canacacis zu zitieren: „Trauer ist eine anspruchsvolle Dame. Sie will gesehen, gehört und gewürdigt werden.“ Funkelnde und glitzernde Tränen, Schluchzen und Klagen helfen der Trauer, gesehen und gehört zu werden. Sie bringen andere Menschen um uns herum dazu, unser Leid mit uns zu teilen, uns zu trösten und zu fragen, was wir brauchen. Trauer sollte auch im besten Falle nicht alleine geschehen.

 

Trauer braucht Trost. Und den bekommen wir von anderen Menschen. Sei es eine Tasse Tee, die eine Freundin kocht, ein Gespräch, eine Umarmung. All diese Arten von Trost unterstützen dich in deiner Trauer. Damit sie wie reinigendes Wasser ist und keines, indem du zu ertrinken drohst.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    SILVIA Bertschinger (Montag, 26 April 2021 20:20)

    Ein sehr tollee Beitrag �

  • #2

    Natalie Garbotz / Starke Mamas (Montag, 26 April 2021 21:51)

    Ja, ja und nochmal ja! <3
    Vielen Dank für diesen tollen Beitrag!

  • #3

    Maria Elisabeth (Mittwoch, 28 April 2021 06:55)

    Das ist super geschrieben und dadurch werden diese Gefühle und ihre Auswirkungen verständlicher. Vielen Dank!