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Gedankenspiele #16 – Von der Sehnsucht oder 10 Jahre Gezi

 

Gerade komme ich zurück aus meinem Sommerurlaub in der Türkei. Sie ist für mich ohnehin ein Sehnsuchtsort, besonders Istanbul. Im Bosporus liegt ja nun mal seit 2013 schon ein Stückchen von meinem Herzen und es ist immer schön, wenn ich wieder mit ihm vereint bin. Daher sind auch die Fahrten mit der Vapur, von einem Kontinenten zum anderen, das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Da es so unfassbar heiß war und die Vapur auf dem Bosporus der angenehmste Ort, machten wir das einen kompletten Nachmittag lang. Im stetigen Hin und Her zwischen Asien und Europa kam ich so richtig auf meine Kosten.

 

Am letzten Abend fuhren wir noch einmal mit meinem geliebten Verkehrsmittel nach Kaköy, dem heutigen Zentrum der freien Abendgestaltung, nachdem in Beyoğlu alles unternommen wurde, um den Gezi-Spirit und alles, wofür es davor stand auszulöschen.

 

Es gab ein Jazz Festival im Park und nach einem langen Essen mit Rakı und Gesprächen über lang vergangene und wundervolle Zeiten, schafften wir es noch gerade so zu den letzten fünf Songs der letzten Band. Wir liefen entlang der Sahil (Küste), zum Rande des Parks und alles war auf einmal wie früher. Der Ort, an dem ich so häufig war sowie die Straßenverkäufer, die eisgekühltes Bier in Dosen anboten, Musik und Menschen, die ausgelassen tanzten und sich den – auch sehnsüchtigen – Liedern hingaben. Der Mond noch zu dreiviertel voll und so nah, als könnte man ihn anfassen stand über der Bühne.

 

Und dann packte es mich. Die Tränen strömten mir über das Gesicht und die Trauer um und die Sehnsucht nach der Zeit in Istanbul vor 10 Jahren war unermesslich groß. Die Klänge der Musik, deren Texte ich nicht verstand, schienen mich zu verstehen und unterstützten mich in diesem Gefühl. Der ganze Park schien sich in der Sehnsucht nach alten Zeiten zu befinden. Kadıköy, die letzte Bastion der Freiheit. Das mag nun für deutsche Ohren sehr dramatisch klingen, aber die türkischen Freunde, denen ich versuchte zu beschreiben, was mich so sehr bewegt hatte, verstanden sofort was ich meine.

 

Und auch gestern in einem Workshop zum Thema Visionen von einem anderen Schulsystem kam das Thema Sehnsucht auf. Sehnsucht, nach einem Ort, in dem Interesse und Neugierde bestimmen, was wann gelernt wird. In dem es wuselig und lebendig zu geht und Kinder sich gesehen und wertgeschätzt fühlen.

 

So habe ich mich heute nochmal mit der Sehnsucht beschäftigt und dafür das „Große Buch der Gefühle“ von Dr. Udo Baer und Dr. Gabriele Frick-Baer zu Rate gezogen:

 

„Neben der realen Lebenswelt gibt es das Andere, eine alternative Wirklichkeit, eine Welt der Möglichkeiten. Diese Welt besteht in unseren Vorstellungen, (…). Aber nichtsdestoweniger ist die Vorstellung des Anderen, des Möglichen, des Alternativen wesentlicher Bestandteil dessen, woraus wir die Impulse und die Initiative für unser Handeln nehmen. (…)

 

Sehnsucht gebiert Handeln, veränderndes Handeln. Geht die Sehnsucht als Motor der Veränderung in unser Handeln ein, entstehen aus der Sehnsucht Wünsche, die zu praktischen Taten drängen, dann ist auch das Selbstwertgefühl ein anderes, ein aktiveres, oft sinnhafteres und wird mehr beachtet und geachtet.“ (S. 21-22)

 

„Wenn Erwartungen und Hoffnungen enttäuscht werden, wächst Resignation. (Das) (…) kann der Sehnsucht gewöhnlich nichts anhaben. Erstrecken sich Enttäuschung und Erfolglosigkeit aber über längere Phasen des Lebens, wiederholen sie sich und verlängern damit auch die Schmerzen, dann suchen Menschen Wege, Enttäuschungen und die Schmerzen zu vermindern. Ein Weg besteht darin die Sehnsucht überhaupt zu eliminieren, nach dem Motto: Wenn ich nichts mehr ersehne, kann ich nicht enttäuscht werden, dann tut mir nichts mehr weh.“ (S. 23-24)

 

„Beim Prozess des Ausgrabens dieser Sehnsucht kommt häufig einiges von dem Geröll mit nach oben, unter dem die Sehnsucht begraben ist (…). Dort hindurchzugehen lohnt sich. Denn wenn die Sehnsucht wieder da ist, wird Kraft, manchmal eine gewaltige Kraft freigesetzt: Ja, ich will etwas verändern! Ja, ich habe die Erlaubnis mein Leben zu gestalten! (…)“ (S.22)

 

Es scheint mir, dass damals mit Gezi, die lange vergrabene Sehnsucht eines ganzen Landes auf einmal freigesetzt wurde. Mit einem Schlag, ohne durch all das Geröll zu müssen. Das wurde nur schnell auf Seite geschaufelt in einer großen, solidarischen, allumfassenden Räumaktion. Denn, als auf einmal, buchstäblich über Nacht, alle ihre Sehnsucht wieder lebendig und stark spürten, wurde sie unverzüglich im besetzten Stadtviertel Beyoğlu als konkrete Utopie umgesetzt und vorgelebt. Es wurde sichtbar, spürbar und greifbar, wie sich die Menschen in der Türkei ihr Leben wünschen und vorstellen. Es blieb nicht beim Wünschen, Warten, Erwarten oder Fordern. Es wurde umgehend ergriffen und gelebt.

 

Noch kurz zuvor war die Resignation riesig, Menschen überlegten wie und wohin sie auswandern könnten.

 

Und dann war sie mit einem Schlag da, diese „gewaltige Kraft“, die mit der ausgegrabenen Sehnsucht entfaltet wurde. Ich erinnere mich noch gut an einen Freund, der noch ein oder zwei Wochen zuvor sagte, dass in der Türkei niemand auf die Straße gehen würde, dass das utopisch sei. Und wie er dann, am zweiten Tag von Gezi vor mir stand, strahlte und rief: „It’s here, Maria! I feel so alive!“. Und daran, was der Park für eine unglaubliche Energiequelle war. Man musste nur einmal hindurch schlendern und fühlte sich, wie nach einem Schluck vom Zaubertrank aus dem kleinen gallischen Dorf. Alles war möglich, es schien nicht nur so.

 

Und dann, fast so plötzlich wie es kam, verschwand das alles wieder. All die Hoffnung, die Umsetzung der Sehnsucht und der Wünsche. An ihre Stelle fiel das viele Geröll, das in der Eile der Nacht im Jahr 2013 unbetrachtet und unbearbeitet zu Seite geräumt worden war und die Resignation ist dadurch eher einer Depression gewichen. Gezi wird tot geschwiegen. Wer etwas darüber schreibt, muss mit Nachteilen oder Strafen rechnen. Fast alle Bekannten sind nicht mehr dort, sind doch noch ausgewandert. Die, die noch da sind, sind dies zumeist, weil sie kein Visum erhalten haben, um woanders zu leben.

 

Das gesamte Viertel der konkret gelebten Utopie ist nicht mal mehr das, was es vorher war. Die Freiheit, Leichtigkeit, die Konzerte, Bars und langen Nächte. All das ist Vergangenheit und verbannt aus Beyoğlu. All das befindet sich im Exil, in Kadıköy. Und die wieder tief vergrabene Sehnsucht, aus Schutz vor noch mehr Schmerz, bahnte sich nun also an diesem letzten Abend in Istanbul, im Kalamış Parkı ihren Weg an die Oberfläche und erwischte mich mit aller Heftigkeit und Trauer, die in ihr verborgen liegt. Denn ich halte eigentlich noch fest, an dem Gefühl und der Hoffnung von Gezi. Will es nicht loslassen. Dabei war das Trauern um die verlorene, gelebte Utopie angebracht und überfällig. „Wer in der rückwärtsgewandten Sehnsucht feststeckt, umgeht das Trauern. Also tut es gut, sich dem Trauern zu stellen.“ (S. 26)

 

Danke also für diese Tiefe der Trauer, die heilsamen Tränen und die fünf sehnsuchtsvollen Lieder, die mich dabei begleitet und unterstützt haben.